Barrierefreiheit ist für die meisten Menschen nur analog ein Begriff. Aber auch im digitalen Leben gibt es für Menschen mit Behinderungen Einschränkungen. Diese sind für Menschen ohne Beeinträchtigungen meist gar nicht sichtbar: Fehlende Untertitel, schlechte Struktur von Webseiten und Bilder ohne Alternativtexte sind die häufigsten Fehler. // von Annika Hauschke und Dana Kemblowski
Surfen im Internet: Was für die meisten Menschen Alltag ist, kann für Matthias Klaus problematisch werden. Denn er ist blind und benötigt für sein digitales Leben einen Screenreader, ein Programm, das ihm Internetseiten vorliest. “Theoretisch kann ich den Bildschirm abschalten, ich brauche ihn nicht”, erklärt er. Doch auch wenn der Screenreader ihm das digitale Leben erleichtert, kommt er häufig nicht an sein Ziel. Wenn Webseiten nicht für digitale Barrierefreiheit optimiert sind, kann auch ein Screenreader nicht helfen. Schließlich könne man als Blinder nur das finden, von dem man auch wisse, dass es da ist, so Klaus. “Es ist oft mühsam.”
Über 300.000 Menschen in Deutschland auf Screenreader angewiesen
Dieses Problem betrifft nicht nur Matthias Klaus, der Beisitzer des Blinden- und Sehbehindertenvereins Bonn/Rhein-Sieg ist. Laut Daten des statistischen Bundesamtes sind über 70.000 Menschen in Deutschland vollständig erblindet. Mehr als 277.000 weitere Menschen besitzen eine Sehbehinderung, mit der sie auf Blindenschrift, die sogenannte Braille-Schrift, angewiesen sind. Das Internet kann von diesen Personen nur mit Hilfsmitteln wie Screenreadern und Braillezeilen erkundet werden. Sind Internetseiten nicht auf diese Hilfsmittel ausgelegt, ist es für die Betroffenen mühsam bis unmöglich, sich selbstständig im Internet zu bewegen.
Infobox: Was ist eine Braillezeile?
Quelle: Planet Schule
Gesetze regeln Standards
Um Betroffenen eine selbstständige Navigation im Internet zu ermöglichen, müssen deshalb Standards eingehalten werden. Welche Standards das genau sind, legen inzwischen Gesetze und Verordnungen fest. Mithilfe dieser Gesetze werden nicht nur Menschen mit Sehbehinderungen unterstützt. Auch Menschen mit Behinderungen des Gehörs, der Sprache oder mit geistigen Behinderungen können sich selbstständiger im Internet bewegen.
Digitale Barrierefreiheit: Rechtliche Grundlagen
Im Jahr 2019 wurde diese Verordnung mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, kurz BFSG, konkretisiert und nimmt nun auch andere Dienstleistungen und Produkte in die Pflicht, sofern sie digital sind. Im Juni 2021 hat der deutsche Bundestag für dieses Gesetz eine Verordnung beschlossen (die BFSGV), die genau beschriebt, wie digitale Barrierefreiheit umzusetzen ist. Das BFSG setzt damit eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2019 um, den European Accessibility Act (EAA). Ab dem 28.06.2025 müssen alle Webseiten, die Produkte oder Dienstleistungen vertreiben, die Standards aus der Verordnung umsetzen. Kleinunternehmer sind teilweise von dieser Verordnung befreit.
Digitale Barrierefreiheit in der Stadt Bonn
Die Stadt Bonn bezeichnet ihren Internetauftritt als weitestgehend barrierefrei. Sie verwaltet die Seite selbst, zuständig ist unter anderem das Amt für Presse, Protokoll und Öffentlichkeitsarbeit. In ihrer Erklärung zur Barrierefreiheit von 2019 steht, dass sie nach dem BITV( Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) barrierefrei seien. Laut Sven Hensler und seinem Kollegen Benjamin Wulf kommen hinsichtlich der BFSGV keine weiteren großen Überraschungen auf sie zu. “Spätestens mit der Integration von Eye-Able haben wir die Verordnung zu hundertprozentig erfüllt”, so Hensler. Stefan Hensler arbeitet als Sachgebietsleiter für IT-Anwendungen und Digitalisierung bei der Stadt Bonn, sein Kollege Benjamin Wulf ist Sachgruppenleiter für E-Government und Programmierung. Beide sind von der Barrierefreiheit der Seite überzeugt. Das war nicht immer so: “Vor dem Relaunch im Jahr 2019 wäre das alles gar nicht möglich gewesen”, erklärt Wulf. Die Technik der Seite war veraltet, das Content Management System, kurz CMS, hätte eine barrierefreie Nutzung nicht unterstützen können. “Die Basis hat da einfach gefehlt.”
Voraussetzungen der Systeme für digitale Barrierefreiheit
Der wichtigste Faktor für ein barrierefreies CMS ist die Trennung von Layout und Inhalt. Dies ist zum einen technisch zu verstehen, zum anderen jedoch auch als Aufgabenaufteilung. Webdesigner*innen entwickeln mithilfe des Systems das Layout. Oftmals sind dafür keine Programmierkenntnisse nötig. Redakteur*innen erstellen dann die Inhalte und fügen sie ein. Im Programmiercode sind diese Inhalte deutlich von der Programmierung des Layouts getrennt. Das macht es Screenreadern deutlich einfacher, eine Seite gut vorzulesen und sie zu bedienen.
Warum das System entscheidend ist
Viele frei verfügbaren Systeme, sogenannte OpenSource-Systeme, sind dabei deutlich weiter in ihrer Entwicklung zur digitalen Barrierefreiheit. Dazu zählen unter anderem WordPress und Drupal. Es gibt auch kostenpflichtige Systeme. Eines davon ist Magnolia, das jedoch kaum Möglichkeiten für digitale Barrierefreiheit bietet. Allgemein werden für barrierefreie Webseiten OpenSource-Systeme empfohlen, da hier der Programmcode frei einsehbar ist und von Nutzer*innen mit Programmierkenntnissen stets weiterentwickelt wird. Das neue CMS der Stadt Bonn ist laut Hensler und Wulf aber optimal für die Barrierefreiheit ausgelegt, da es voraussichtlich für die nächsten Jahre aktuell bleiben wird.
Raum zur Verbesserung
Eine Mentalität, die Matthias Klaus teilt. Er selbst ist mit der Seite der Stadt Bonn insgesamt zufrieden. Er hat alles gefunden, was er gesucht hätte. Aber: “Intensiv getestet habe ich die Seite noch nicht.” Allgemein sei er überzeugt, dass es Raum zur Verbesserung gäbe. “Allein die ganzen Formulare. Das ist für mich nicht so einfach wie für andere.” Beispielsweise, wenn das Dokument nicht darauf ausgelegt sei, es sofort am Computer auszufüllen oder Felder für Unterschriften. “Ich kann ja gar nicht sehen, wo das ist. Auch wenn das Dokument ausgedruckt wurde.”
Rechtliche Probleme schränken Entwicklung ein
Doch auch wenn Hensler und Wulf dem zustimmen und das auch technisch umsetzbar wäre: “Da gibt es rechtliche Grundlagen, für die ist dann der Bund oder das Land zuständig.” So gäbe es die größten Hürden beim Thema Formulare und Unterschriften. Zwar erlauben Gesetze eine generelle digitale Abwicklung, viele andere Gesetze und Verordnungen verbieten hingegen die digitale Unterschrift für spezielle Fälle. Kommunal seien diese Barrieren kaum behebbar. “Da muss es eine Gesetzesänderung geben, damit das digital möglich ist”, meint Hensler.
Aktuell arbeiten sie an der Integration der Anwendung Eye-Able. “Damit können Sehbehinderte sich die Seite so einstellen, wie sie es brauchen”, fasst Wulf die Anwendung zusammen. Kontraste, Blaufilter, Seitenraster und ähnliches können dann von den Benutzer*innen individuell eingestellt werden. Außerdem könnte um eine Online-Terminberatung gebeten werden. “Dann können Bürger*innen in einem Online-Meeting Fragen klären und sparen sich wenigstens einen Weg zum Amt”, so Wulf. Formulare müssen Bürger*innen der Stadt Bonn bislang noch analog ausfüllen.
Blick nach Europa
Deutschland ist nicht das einzige Land, das sich intensiver mit der digitalen Barrierefreiheit befassen muss. Der European Accessibility Act, kurz EAA, schreibt vor, dass alle Länder der Europäischen Union ab dem 22.06.2022 ein Gesetz zur digitalen Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen erlassen haben müssen. Allerdings wurde diese Richtlinie nicht überall pünktlich übernommen. So soll die französische Regierung den Termin verpasst haben, die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Die französische Version des Gesetzes trat laut offizieller Stelle erst am 09.08.2022 in Kraft und wurde zuletzt am 18.04.2023 aktualisiert.
Digitales Leben hat sich verändert
Allgemein ist Matthias Klaus jedoch der Meinung, dass das digitale Leben sich für Menschen mit Sehbehinderung in Deutschland deutlich verbessert habe. “Vor zehn Jahren zum Beispiel konnte ich überhaupt nicht frei im Internet surfen. Da hat sich doch einiges getan.” Sein Fazit: Wenn die Gesetzesstandards eingehalten werden, ist das digitale Leben auch für Menschen wie ihn selbstständig möglich.
Teaserbild: Barrieren gibt es nicht nur Analog, sondern auch digital. // Bild: Dana Kemblowski