schulze_zaKernkraftwerk am Standort in Grundremmingen, Quelle: RWEcharias_kernkraftwerke_teaser_QuelleRWEKraftwerkstandort

Kernkraft in der Nachbarschaft

Haarrisse in den Reaktordruckbehältern: Das belgische Kernkraftwerk Tihange 2 scheint nicht mehr sicher. Auch in Deutschland sind noch sieben Kernkraftwerke aktiv. Aber wie gut ist Deutschland vor einem möglichen Atomunfall geschützt? //Von Johanna Schulze und Paulina Zacharias

Gelbe Plakate in den Schaufenstern, Sticker auf Autos und an Litfaßsäulen: Viele Aachener Anwohner fordern die Stilllegung von Tihange 2. Mit dem Auto sind es etwa 85 Kilometer vom belgischen Kernkraftwerk bei Huy nach Aachen. Sollte es zu einem Atomunfall kommen, wird Aachen erhöhten Strahlenwerten ausgesetzt sein. Auch die Stadtverwaltung wünsche sich daher eine Abschaltung, so Bernd Goffart, Leiter Stab Bevölkerungsschutz der Stadt Aachen.

Bereits vor einiger Zeit wurden bei Untersuchungen in dem belgischen Kernkraftwerk Risse in einem der Druckbehälter festgestellt. "Es ist nicht bewertbar, ob die Risse nun gefährlich sind oder nicht. Da also nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Risse gefährlich sind, muss der Reaktor abgeschaltet werden", sagt Bernd Goffart und begründet damit die Forderung der Städteregion Aachen, das Kernkraftwerk abzuschalten.

Drei Bereiche der Sicherheit

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit hat in den Sicherheitsanforderungen an Kernkraftwerke drei Schutzziele definiert: Zum einen muss die Reaktivität kontrolliert werden. Das bedeutet, dass zu jedem Zeitpunkt sichergestellt sein muss, dass der Reaktor steuerbar und im Notfall abschaltbar bleibt. Zum anderen ist die Kühlung der Brennelemente, damit die Anlage nicht überhitzt und explodiert, ein weiteres Schutzziel. Der Einschluss der radioaktiven Stoffe ist das dritte wichtige Schutzziel. Die aufgestellten Barrieren im Kernkraftwerk dürfen also weder durch innere noch durch äußere Einflüsse so beschädigt werden, dass Radioaktivität unkontrolliert ausbrechen kann.

Diversität schützt Kernkraftwerk

Um ein Kernkraftwerk in diesen Bereichen zu schützen, gibt es verschiedene Vorgehensweisen. Eine davon ist das "n+2"-Prinzip. Falls also beispielsweise zwei Notstromdiesel gleichzeitig ausfallen, durch einen Defekt oder eine Wartung, muss es zwei weitere Systeme geben, die ihre Aufgabe übernehmen können. Dabei spielt auch das Prinzip der Diversität eine Rolle. Fallen die beiden Notstromdiesel aus, so gibt es beispielsweise Batteriesysteme oder Notstromdiesel eines anderen Herstellers, die sich in separaten Räumen befinden. Damit soll gewährleistet werden, dass durch einen Defekt nicht alle Systeme ausfallen. "Wie wichtig das ist, zeigte der Unfall von Fukushima: Dort waren alle Notstromdiesel im Untergeschoss des Maschinengebäudes aufgestellt, wo sie alle gleichzeitig durch die Überflutung zerstört wurden", sagt Sven Dokter von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS).

Funktionsweise von Siede- und Druckwasserreaktoren

Kernkraftwerke funktionieren auf verschiedene Weisen, wobei in Deutschland derzeit nur Leichtwasserreaktoren betrieben werden. Das Kernkraftwerk Gundremmingen arbeitet mit einem Siedewasserreaktor (SWR), alle anderen Kernkraftwerke mit Druckwasserreaktoren (DWR). Ein wesentlicher Unterschied der beiden Reaktortypen sind die Wasserkreisläufe: In einem DWR gibt es einen Primär- und einen Sekundärkreislauf. Das Wasser der beiden Kreisläufe berührt sich an keiner Stelle, sodass das Wasser des Sekundärkreislaufes im Gegensatz zu dem des Primärkreislaufes nicht radioaktiv ist. In einem SWR treibt der Wasserdampf aus dem Reaktordruckbehälter die Turbine an. Daher sind das Maschinenhaus und die Turbine durch Radioaktivität kontaminiert, was insbesondere die Wartung erschwert.

Ein weiterer Unterschied ist der vorherrschende Druck. Wie es der Name bereits vermuten lässt, herrscht in einem DWR ein Druck von etwa 157 bar, in einem SWR nur von etwa 70 bar. Der hohe Druck in einem DWR verhindert das Sieden des Wassers. Im Reaktordruckbehälter eines SWR siedet das Kühlwasser bereits und wird als Wasserdampf zu der Turbine geleitet.

Sieben deutsche Kernkraftwerke sind in Betrieb

In Deutschland sind derzeit noch sieben Kernkraftwerke, die zwischen 1985 und 1989 in den Leistungsbetrieb gegangen sind, aktiv. Zehn Kernkraftwerke wurden seit 2011 in Deutschland außer Betrieb genommen und befinden sich in Stilllegung oder die Betreiber warten auf eine entsprechende Genehmigung. Bis Ende 2022 sollen nach dem Atomgesetz alle noch aktiven Kernkraftwerke abgeschaltet werden.

Andere Länder rüsten auf

Andere Länder setzen verstärkt auf Energiegewinnung durch Kernenergie. Saudi-Arabien plant 16 neue Kernkraftwerke und Russland hat im April ein schwimmendes Kernkraftwerk in Richtung Sibirien geschickt. Weltweit seien derzeit 58 Reaktoren im Aufbau, so eine Statistik der International Atomic Energy Agency (IAEA).

Aber auch rund um Deutschland gibt es zahlreiche Kernkraftwerke, die noch aktiv sind. Darunter auch das belgische Kernkraftwerk Tihange 2, welches 2023, im Rahmen des Kernausstiegs bis 2025, vom Netz gehen soll. In Österreich, Dänemark, Luxemburg und Polen ist derzeit kein Kernkraftwerk in Betrieb, Polen plant jedoch seit mehreren Jahren den Bau einer Anlage.

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EU-Stresstest deckte Mängel in Kernkraftwerken auf

Nach dem Atomunfall in Fukushima im Jahr 2011 beschloss die Europäische Union (EU), einheitliche und transparente Risikobewertungen der Kernkraftwerke in der EU durchzuführen. Die so genannten "EU-Stresstests" waren freiwillig, jedoch haben sich alle 14 Mitgliedstaaten, in denen Kernkraftwerke betrieben wurden, an den Tests beteiligt, außerdem auch die Schweiz und die Ukraine. An den deutschen Kernkraftwerken kritisierte die European Nuclear Safety Regulators Group (ENSREG), dass sie keine ausreichenden Erdbebenwarnsysteme besäßen. Frankreich musste alle seine 58 Kernkraftwerke nachrüsten, da sie nicht ausreichend gegen Naturkatastrophen, den Ausfall von Elektrizität oder des Kühlsystems geschützt gewesen seien.

Internationale Zusammenarbeit

Mit acht Nachbarstaaten steht Deutschland in einem engen Informationsaustausch. Dazu gehören Belgien, Frankreich, die Niederlande, Österreich, die Schweiz und Tschechien. Mit diesen Ländern hat Deutschland gemeinsame Expertengruppen eingerichtet. Jedes Jahr finden gegenseitige Besuche statt, bei denen Vertreter der Länder über Fragen der Reaktorsicherheit, des Notfall- und des Strahlenschutzes diskutieren. Außerdem ist Deutschland Mitglied der Internationalen Atomenergie-Organisation. Diese beschäftigt sich unter anderem mit der nuklearen Sicherheit und der Sicherung.

Ständige Überwachung der Kernkraftwerke

In deutschen Kernkraftwerken gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die der Sicherheit von den Kraftwerken dienen. Gemäß dem Atomgesetz werden Kernkraftwerke von der Errichtung bis zur Stilllegung von den Umweltministerien der Bundesländer überwacht und kontrolliert. Zusätzlich zu der dauerhaften Überprüfung finden alle zehn Jahre Sicherheitsüberprüfungen statt. Dabei wird die gesamte Anlage getestet, auch, ob sie allen aktuellen Anforderungen entspricht. Jährlich finden außerdem Revisionen statt, wobei grundlegende Konzepte überprüft werden. "Wir haben in Deutschland sehr hohe Sicherheitsstandards, dadurch gibt es kaum etwas, was so sicher ist wie ein Kernkraftwerk", sagt Jan Peter Cirkel von RWE.

Die gleichen Sicherheitsanforderungen wie im Betrieb

Seit Juni 2018 reißt ein Spezialbagger den Kühlturm des Kernkraftwerks in Mülheim-Kärlich ab. //Quelle: Johanna Schulze

Seit Juni 2018 reißt ein Spezialbagger den Kühlturm des Kernkraftwerks in Mülheim-Kärlich ab. //Quelle: Johanna Schulze

Nachdem ein Kernkraftwerk abgeschaltet wurde, beginnt der Rückbau. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird das Kernkraftwerk direkt abgebaut oder es wird eingeschlossen und später zurückgebaut. Letzteres kann den Rückbau um etwa 30 Jahre verschieben, da zunächst gewartet wird, bis die Radioaktivität abklingt. Laut der Energie Baden-Württemberg (EnBW) habe ein direkter Rückbau viele Vorteile. Es könnten beispielsweise die eigenen qualifizierten und geschulten Mitarbeiter sowie die von Partnerfirmen eingesetzt werden.

Dennoch dauert auch ein direkter Rückbau 15 bis 20 Jahre. "Ein Rückbau findet von innen nach außen statt, erst einmal sieht man gar nichts davon", sagt Jan Peter Cirkel. Bei einem Rückbau werden die verschiedenen Anlagenteile nach und nach demontiert, zerlegt und aus dem Gebäude gebracht. Auch während des Rückbaus unterliegt das Kernkraftwerk dem Atomgesetz. "Solange ein Kernkraftwerk noch dem Atomgesetz unterliegt, gelten die gleichen Sicherheitsanforderungen wie im Betrieb", so Cirkel.

BUND äußert Kritik

Der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) in Deutschland hat Ende April dieses Jahres die Studie "Atomkraft 2018-sicher, sauber, alles im Griff?" veröffentlicht. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland jederzeit zu einem größeren Störfall kommen kann. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit habe jedoch keine Hinweise, dass die erforderliche Schadensvorsorge in den deutschen Atomkraftwerken nicht gewährleistet sei. "Die Möglichkeit eines Unfalls kann man natürlich nicht zu einhundert Prozent ausschließen. Die entscheidende Frage ist insofern weniger, ob ein Unfall passieren kann, sondern mit welcher Wahrscheinlichkeit und mit welchen Folgen", so Sven Dokter von der GRS.

Aachen probt für den Ernstfall

Die Stadt Aachen hat sich in der Vergangenheit mit möglichen Szenarien auseinandergesetzt. "Im Falle eines Unfalls gehen wir immer davon aus, dass wir 21 Stunden Zeit haben, um zu reagieren, bis eine atomare Wolke Aachen erreichen kann", sagt Bernd Goffart. Im Laufe dieses Jahres werde in Kooperation mit der Städteregion Aachen eine theoretische Übung stattfinden. Dabei bildet sich ein Krisenstab, der dann theoretisch durchspielt, was bei einem Defekt im Kernkraftwerk Tihange und einer damit einhergehenden Bedrohungslage für die Aachener Bevölkerung zu tun ist. Bereits 2015 fand eine praktische Katastrophenschutzübung statt.

"Eine Evakuierung war zu keiner Zeit nötig"

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) habe in einer Untersuchung die Wetterlage vom 1. Januar bis 31. Dezember 2017 gemessen und für jeden Tag untersucht, welche Folgen ein Atomunfall unter den Wetterbedingungen für die Stadt Aachen und die Region haben würde. Dabei sei immer von einem Unfall der Stufe 7, also eines katastrophalen Unfalls wie in Tschernobyl oder Fukushima, ausgegangen worden. Allerdings hätten Untersuchungen des Bundesamtes für Strahlenschutz ergeben, dass die Stadt Aachen aufgrund eines Unfalls im Kernkraftwerk Tihange bei keiner Wetterlage hätte evakuiert werden müssen. "Bislang hat das BfS die Daten bis zum 31.5.2017 ausgewertet und an 27 Tagen müssten Jodtabletten ausgegeben und ein Aufenthalt im Inneren der Häuser angeordnet werden, eine Evakuierung war zu keiner Zeit nötig", sagt Bernd Goffart.

Vorbereitungsmaßnahmen für die Bürger

Auch die Bewohner können sich selbst auf einen möglichen Unfall vorbereiten. So sei es ratsam, Lebensmittel- und Getränkevorräte für etwa 14 Tage anzulegen und beispielsweise Abholketten in Schulen und Kindergärten zu planen und zu üben. Dies gelte auch für andere Katastrophenfälle, wie beispielweise bei einem totalen Stromausfall, so Goffart. Die Stadt Aachen brachte gemeinsam mit der Städteregion Aachen und den Kreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg im März 2017 eine Informationsbroschüre über Tihange heraus. Darin können sich die Bürger beispielsweise über die Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln bei einem Atomunfall informieren.

Meldepflichtige Ereignisse

Die Betreiber der Kernkraftwerke müssen nach der "Atomrechtlichen Sicherheitsbeauftragten- und Meldeverordnung" (AtSMV) bestimmte Ereignisse melden. Dazu zählen Funktionsstörungen, Schäden und interne Ereignisse aber auch äußerliche Einwirkungen. Am 5. April 2018 wurde beispielsweise im Kernkraftwerk Grohnde ein "Befund am Kühlwassertemperaturregler eines Notstromdiesels" gemeldet, am 3. April im abgeschalteten Kernkraftwerk Unterweser "Auffälligkeiten an Laufrädern des Reaktorrundlaufkranes". Auf die meldepflichtigen Ereignisse kann jeder online zugreifen.

Teaserbild: Quelle: RWE Kraftwerkstandort Gundremmingen

Die Autorinnen:

Johanna Schulze

Paulina Zacharias

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