Stereo-Aufnahmegeräte und ein Kunstkopfmikrofon

Das Kribbeln im Ohr

In den 70ern wurden binaurale Tonaufnahmen entwickelt; damals noch als unausgereifte Technik für Hörbücher, heute gibt es eine ganze Internetbewegung, die auf die Effekte schwört. Dank ihres räumlichen Klangs sorgen sie für ein intensiveres Hörerlebnis als Stereo-Aufnahmen. Neben der klassischen Nutzung in Musik und Hörspielen, gibt es heute noch eine ganze Reihe an weiteren Anwendungsmöglichkeiten. // Von Timur Vardar und Sven Reck

Jeder kennt das Hörerlebnis aus dem Kino. Im Actionfilm lässt der Hauptdarsteller die Reifen quietschen und es klingt, als würde das Auto von vorne rechts bis hinten links einmal durch den Kinosaal düsen. Das ist allerdings nur möglich, da in den meisten Kinosälen bis zu sieben Kanäle für Tonwiedergabe vorhanden sind. Zu Hause vor dem Fernseher klingt das Ganze wieder anders, sofern man kein Besitzer eines 7.1 Soundsystems ist. Das liegt daran, dass die meisten Haushalte maximal zwei Lautsprecher für ihren Fernseher besitzen. Demnach gibt es also nur zwei Kanäle für den Sound. Sound, der aus zwei Kanälen kommt, heißt Stereo. Ein 3D-Sound wie im Kino ist zwar nicht mit Stereo-Lautsprechern möglich, jedoch mit Kopfhörern. Dieser wird durch binaurale Stereoaufnahmen erzielt, was oftmals auch Kunstkopf-Stereofonie genannt wird. Da der Effekt dieses Vorgehens nur mit Kopfhörern erkennbar ist, ist es zudem auch unter Kopfhörer-Stereofonie bekannt.

Binaurale Tonaufnahmen - Grundlagen

Der Effekt erklingt dann, wenn bei der Tonaufnahme zwei Mikrofone verwendet werden, die entgegengesetzt aufgestellt sind. "Die beiden Mikrofone haben einen gewissen Abstand. In unserem Jargon wird das Laufzeit genannt", erklärt Sound-Designer und -Engineer Patrick Leuchter. Die Laufzeit sollte die Breite eines menschlichen Schädels haben, um die Hörgänge eines Menschen nachempfinden zu können. Bewegt sich nun jemand um die beiden Mikrofone und erzeugt Geräusche, so lässt es sich anschließend in der Audioaufnahme nachempfinden, an welcher Stelle im Raum die Person stand. Stand die Person zum Beispiel eher rechts, ist der Ton demnach auf der rechten Kopfhörerseite lauter, als auf der linken.

Kunstkopfmikrofon

Bei zwei Mikrofonen lässt sich zwar lokalisieren, ob die Tonquelle von links oder rechts kommt, jedoch wird der Schall, der von einer Seite in das jeweilige Mikrofon trifft nicht ausreichend gedämpft und deshalb auch vom gegenüberliegenden Mikrofon aufgenommen. Um dies zu verhindern und eine realistischere Tonaufnahme zu ermöglichen, wurde in Deutschland das Kunstkopfmikrofon entwickelt. Das Kunstkopfmikrofon sieht aus wie ein menschlicher Kopf mit durchschnittlichen Maßen. Die Mikrofone befinden sich auf beiden Seiten in den Silikonohren. Dieser wird so positioniert, wie man sich auch selbst zwischen den Schallquellen positionieren würde. Der Kunstkopf dient als schallharter Trennkörper.

Dies hat den Effekt, dass die Laufzeit des Schalls von einem Mikrofon zum anderen ähnlich lange ist, wie beim Menschen von einem Ohr zum anderen. "Ohne den Kopf gäbe es abgesehen vom Luftwiderstand keinerlei Reibungsverluste, die die Schallenergie verringern könnten", meint der Tonstudiobesitzer Patrick Leuchter. Besonders hohe Frequenzen absorbiert er fast vollständig. Ein Schall aus tieferen Frequenzbereichen beugt sich um den Kunstkopf, weshalb die Ortung bei tiefen Tönen noch deutlich schwieriger ist. Da der Kunstkopf eine Stirn- und eine Hinterkopf-Wölbung besitzt, unterscheidet sich die Umleitung des Schalls zudem darin, ob die Tonquelle eher von vorne oder von hinten kommt.
Zudem sind unsere Ohren leicht nach vorne gerichtet, wodurch Töne von vorne ein wenig lauter sind als Töne, die von hinten auf uns treffen. Die detailliert designten Silikonohren machen den Effekt anschließend in der Tonaufnahme hörbar.

Stereo vs. Binaural

 

Alternativen zum Kunstkopfmikrofon

Patrick Leuchter arbeitet unter anderem an dreidimensionalen Sounderlebnissen. Sein Werk "Seven Spaces Cologne" ist ein binaurales Musikalbum, das den Hörer mit seiner räumlichen Architektur der Akustik überrascht. Einen Vergleich zwischen Stereo und Binaural gibt es im Beispiel-Audio-Clip zu hören (siehe oben).
Neben Kunstkopfmikrofonen verwendet Leuchter zudem Kugelflächenmikrofone und Originalkopfmikrofone. Das Kugelflächenmikrofon ist ähnlich aufgebaut, jedoch besitzt es in seiner Form keine Vorder- und Rückseite. Dies hat den Nachteil, dass Schall, der von hinten auftrifft, genauso klingt wie Schall, der von vorne auftrifft.

binaurale Tonaufnahme mit Kugelflächenmikrofon

Ebenfalls ein Trennkörpermikrofon, nur ohne Ohren und Nase: Das Kugelflächenmikrofon. // Quelle: Sven Reck

Beim Originalkopfmikrofon werden die Mikrofone wie zwei In-Ear-Kopfhörer in die eigenen Ohrmuscheln gesteckt, um eine optimale Position für realistische binaurale Tonaufnahmen zu haben. Die Schallkörpertrennung übernimmt hierbei der eigene Kopf; die Unterscheidung zwischen vorne und hinten regeln die Ohrmuscheln.
Seit wenigen Jahren ist auch eine virtuelle Erzeugung des Klangeffektes möglich. "Das ist Head-Related Transfer Function. Dabei wird für jede Person ein individueller Sound in Echtzeit berechnet, unter Berücksichtigung der Ohrform oder deiner Kopfgröße", erklärt Patrick Leuchter. Am PC könne man das Signal anschließend per Drag-and-Drop um den Mittelpunkt herum bewegen. Der räumliche Klang würde währenddessen in Echtzeit berechnet werden. "Das war vor zehn Jahren undenkbar!"

binaurale Tonaufnahme mit Originalkopfmikrofon

Patrick Leuchter ist überzeugt von seinem Originalkopfmikrofon. // Quelle: Sven Reck

Der Anfang binauraler Aufnahmen

Binaurale Tonaufnahmen auf einer Schallplatte von 1974

Musik-Schallplatte mit Kunstkopf-Stereofonie von 1974
//Quelle: Sven Reck

Die Kunstkopf-Stereofonie wurde bereits 1973 auf der Berliner Funkausstellung vorgestellt. In den kommenden Jahren entstand ein Hype um das neue Hörgefühl. Damals wurde das dreidimensionale Hörerlebnis für Musikaufnahmen und Hörspiele verwendet. Das löst beim Hörer das Gefühl aus, dass er oder sie sich mitten im Geschehen befindet. So genannte Kopf-Stereomikrofone erreichen dieses Erlebnis. Diese speziellen Mikrofone sind ähnlich wie die zuvor genannten Originalkopfmikrofone: Sie wurden entweder von einem Kunst- oder einem natürlichen Kopf getragen. Bei der Aufnahme befand sich der Träger der Mikrofone zwischen den Musikern der Band. Die Mikrofone nehmen dabei die Musik so auf, wie es das menschliche Gehör macht. Daraus entsteht ein intensives und realistisches Erlebnis für den Hörer.

Der anfängliche Hype ist jedoch bereits wenige Jahre später wieder abgeflacht , da man keine weiteren Einsatzmöglichkeiten als die Verwendung für Hörbücher fand. Doch das Internet und der Fortschritt von Virtual-Reality-Medien hat die Technik in den letzten Jahren wieder aufleben lassen.

ASMR – Der neue binaurale Trend

Vor etwa zehn Jahren ging das YouTube-Video "Virtual Barbershop" online, das aktuell 13 Millionen mal geklickt wurde. Experte Patrick Leuchter vermutet, dass das Video der ausschlaggebende Grund für das steigende Interesse für binaurale Tonaufnahmen unter jungen Menschen war. Bei einigen Zuschauern verursacht das Video ein Kribbeln im Nacken, wenn Sie mit aufgesetzten Kopfhörern den virtuellen Barbershop betreten. Das und der in Klickzahlen gemessene Erfolg des Videos sorgte dafür, dass sich einige junge Menschen binaurale Aufnahmegeräte zulegten und versuchten ähnliche Videos zu produzieren. Dies könnte eine Erklärung für den Start des Internet-Hype um das so genannte ASMR sein. Auf YouTube hat sich inzwischen ein ganzes Genre für ASMR-Videos entwickelt. Viele ASMR-Youtuber können regelmäßig mehrere Millionen Klicks mit ihren Videos generieren.

ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response. Einige Menschen gucken sich ASMR-Videos an, weil sie dabei ein wohliges, kribbelndes Gefühl auf der Haut verspüren. Es kann ihnen beim Entspannen, Konzentrieren oder auch beim Einschlafen helfen. Dieses Gefühl, auch Tingles genannt, beginnt meist auf der Kopfhaut und kann sich auf den gesamten Körper ausbreiten. Externe Reize, sogenannte Trigger, lösen die Tingles aus. Studien der britischen Universitäten Anglia Ruskin und Swansea zeigen, dass Flüstern, sanftes Sprechen, knackige und klopfende Geräusche besonders wirksame Trigger sind. Alle erdenklichen Gegenstände sind in der Lage solche Trigger zu erzeugen. Kreativität kennt auch dort keine Grenzen.

Die Wirkung von ASMR

Einige ASMR-Künstler greifen für die Umsetzung ihrer Trigger auf binaurale Tonaufnahmen zurück. Sie lassen dabei die Geräusche von einem Ohr zum anderen wandern und sprechen abwechselnd ins linke und rechte Ohr. Das machen sie, um dem Zuschauer eine intensivere Wirkung zu bieten. "Monoaufnahmen können Inhalte transportieren, Stereoaufnahmen können Inhalte und grobe Orientierungen transportieren, nur aber binaurales Hören ermöglicht das wirkliche Eintauchen in ein authentisches Hörerlebnis, denn hier werden auf naturalistische Weise Hörbedingungen realisiert", erklärt Claus-Christian Carbon, Wahrnehmungspsychologe der Universität Bamberg.

Doch es benötigt Zeit bis man das kribbelnde Gefühl erlebt, das durch die Aufnahmen ausgelöst werden soll. Carbon forscht im Bereich ASMR und ist zu folgender Erkenntnis gekommen: "Es hilft nichts, sich einmal kurz in ein ASMR-Video reinzuklicken. Man muss das Ganze längere Zeit rezipieren, sonst wird eine positive Wirkung kaum eintreten können."

Wer einen kleinen Einblick in ASMR haben möchte, kann sich unseren Beispiel-Audio-Clip anhören. Der gewünschte Effekt muss nicht zwangsläufig eintreten.

Einsatzgebiete und Zukunft von 3D-Audio

Auch neben ASMR finden binaurale Tonaufnahmen großen Anklang in der Messtechnik. Sie werden für Messungen, wie Lärmbelastung in Einflugschneisen oder bei der Geräuschentwicklung in Fahrzeuginnenräumen verwendet. Diese technischen Messungen ermitteln nicht nur wie laut die Schallentwicklungen sind, sondern auch welche Wirkung sie auf den Menschen haben.
"Seit einigen Jahren ist der neue 3D-Audio-Hype losgegangen, damit werden Kunstkopf-Aufnahmen sicherlich auch wieder populärer. Doch es ist sehr teuer und unflexibel. Daher denke ich nicht, dass die Zukunft darin liegt", vermutet Leuchter.

3D-Audio-Virtualiserung, die digitale Variante dreidimensionalen Klang zu produzieren, ist dagegen unglaublich flexibel. Bei der Bearbeitung am Computer kann man alles Wichtige entscheiden und nach Belieben verändern. "Ich glaube im Bereich der Unterhaltungsmedien wird sich die 3D-Virtualisierung durchsetzen", sagt der Sound-Engineer. Die Digitalisierung des binauralen Klangeffekts werde wohl langfristig günstiger, flexibler und praktischer sein als die analoge Kunstkopf-Aufnahme.

"Der Einsatz ergibt nur dort Sinn, wo der dreidimensionale Sound auch einen Mehrwert bietet. Virtual-Reality-Umgebungen und -Spiele bieten sich natürlich an", meint Leuchter. Bei Virtual-Reality-Games hat der Spieler das Gefühl wirklich in der Spielwelt zu sein. Die Echtzeitberechnung der Sounds macht dabei das Spielerlebnis noch eine Stufe authentischer.
Ebenso ist der Einsatz im Filmbereich denkbar. "Eine Möglichkeit ist es, die großen Lautsprecher Setups aus dem Kino für den Heimgebrauch in einer binauralen Form anzubieten. Das kommt dann mit Kopfhörern viel näher an das Kinoerlebnis ran, als einfach nur Stereo."
Ebenso kann sich Patrick Leuchter in den Bereichen Installationskunst, akustische City-Walks, experimentelle Musik und nach wie vor bei Hörspielen, den Einsatz von binauralen Aufnahmen vorstellen.

Teaserbild: Im Vordergrund: Gewöhnliche Stereo-Aufnahmegeräte; im Hintergrund: Ein Kunstkopfmikrofon. // Quelle: pixabay.com

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