Heutzutage haben Menschen Zugriff auf Lebensmittel aus aller Welt. Dabei spielen Ort und Jahreszeit keine Rolle mehr. Ermöglicht wird dies durch ein komplexes Nahrungsmittelsystem, das immer undurchsichtiger wird. Blockchain-Technologie kann dabei helfen, die Transparenz wiederherzustellen. //Von Marcel Zobel
Jedes Jahr geht etwa ein Drittel der weltweit produzierten Gesamtmenge an Lebensmitteln verloren oder wird weggeworfen. Das geht aus einem aktuellen Bericht der Food and Agriculture Organisation (FAO) hervor. Der Verlust kann in allen Phasen der Wertschöpfungskette auftreten, wobei die größten Verluste am Anfang und am Ende der Kette zu verzeichnen sind. In Entwicklungsländern liegt dies oft an ineffizienten Anlagen und Verpackungen, während in Industriestaaten wie Deutschland die meisten Lebensmittel aufgrund eines überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdatums im Müll landen, sowohl bei Einzelhändlern als auch Konsumenten.
Erkennung von Schwachstellen gestaltet sich schwierig
Das Nahrungsmittelsystem hat so viele Teilnehmer, dass es nahezu unendlich viele Möglichkeiten gibt, Lebensmittel zu verlieren oder zu verschwenden. Schuld daran sind vor allem veraltete Lieferketten. Nicht wenige Unternehmen verwalten ihre Bestände noch auf Papier, wodurch es schwierig ist, Lebensmittel zurückzuverfolgen, Schwachstellen im System zu finden und an Effizienz zu gewinnen. Laut einer Analyse vom BCG Henderson Institute, könne man durch die Digitalisierung der Versorgungsketten die Verschwendung von Lebensmitteln um bis zu 120 Milliarden Dollar verringern. Das Institut, das Geschäftsideen in Zusammenarbeit mit führenden Wissenschaftlern, externen Mitarbeitern und Partnern erforscht und übersetzt, beruft sich dabei auf mehrere Studien, unter anderem auch auf die von FAO.
Wichtigkeit von Zusammenarbeit in allen Phasen der Lieferkette
Aufgrund der vielen Teilnehmer im Nahrungsmittelsystem, ist es wichtig, dass alle Akteure der Lieferkette effizient zusammenarbeiten. Um eine effiziente Zusammenarbeit zu gewährleisten, müssen alle Akteure bekannt und zu jedem Zeitpunkt auf demselben Wissensstand sein. Der Kern einer guten Zusammenarbeit besteht aus Vertrauen, Verantwortlichkeit und Transparenz. Diese Kriterien können mittels Blockchain-Technologie umgesetzt werden. Christian Schultze-Wolters, der den Geschäftsbereich Blockchain Solutions bei IBM für die Region Deutschland, Österreich und Schweiz (DACH) führt, sagt: "Die relevanten Daten werden in nahezu Echtzeit sicher verschlüsselt und unveränderbar allen beteiligten Unternehmen zur Verfügung gestellt." Dadurch könnte bei etwaigen Rückrufaktionen von Lebensmitteln schnell herausgefunden werden, woher sie ursprünglich kamen und mit welchen anderen Produkten sie Kontakt hatten. Somit würde verhindert, dass haufenweise saubere Nahrung weggeworfen wird, aus Angst sie könnte kontaminiert sein.
Potenzial von Blockchain-Technologie für Lieferketten
René Bantes, Abteilungsleiter für Technologieanalysen und strategische Planung des Fraunhofer Instituts für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) erklärt: "Die Blockchain-Technologie hat das Potenzial Lieferketten verlässlicher zu machen, indem sie verhindern kann, dass Einträge in der Dokumentation der Lieferkette nachträglich verändert werden. Das erschwert grundsätzlich Betrug, verhindert diesen aber zunächst einmal nicht, da es natürlich immer noch möglich ist, Schweinelende gegen Gammelfleisch auszutauschen, ohne dass dabei die Dokumentation geändert wird." Des Weiteren sei die Frage des großflächigen Einsatzes von Blockchain-Technologie im Nahrungsmittelsektor keine technologische, sondern hänge eher von der wirtschaftlichen und organisatorischen Machbarkeit ab. "Grundsätzlich ist der Nahrungsmittel-Sektor ausgesprochen preissensitiv und für die beteiligten Unternehmen ergibt eine Änderung der Lieferkettendokumentation nur einen Sinn, wenn es entweder eine regulatorische Pflicht dazu gibt, oder wenn sie sich dadurch einen wirtschaftlichen Vorteil erarbeiten können", so Bantes.
Die Blockchain
Neben dem Einsatz im Nahrungsmittelsystem existieren auch andere Ideen zu möglichen Anwendung. Dazu zählt unter anderem der Einsatz im Gesundheitswesen, um Patientenakten, medizinische Befunde und Krankheitsverläufe zu dokumentieren. Ein anderes Szenario wäre für den Energiemarkt denkbar. Zum Beispiel könnte die Abrechnung privater Solaranlagen oder der Bezahlprozess an E-Tankstellen optimiert werden. Darüber hinaus gibt es Ideen zur Abwicklung von Versicherungen oder digitaler Wahlen.
Die Blockchain im Nahrungsmittelsystem
Aufgrund ihrer Eigenschaften bietet sich die Blockchain-Technologie jedoch besonders für den Gebrauch im Nahrungsmittelsektor an. Mark Pilkington, Professor für Wirtschaftswissenschaften der Universität Bourgogne Franche-Comté, schreibt im Buch "Research Handbook on Digital Transformations", dass die Blockchain-Technologie eine bahnbrechende Lösung sei. Ein gemeinsames, konsensorientiertes und unveränderliches Hauptbuch helfe, die Herkunft und die Veränderungen in der Lieferkette zu verfolgen. Dabei könne man auch auf Geräte zugreifen, die beispielsweise in Fischerbooten, Transportwagen oder Lagerkühlern installiert sind, um sicherzustellen, dass ein Produkt sicher gehandhabt wurde. So könnten Daten zu Umgebungsbedingungen wie Temperatur und Standort verfolgt werden.
In dieser vereinfachten Darstellung erkennt man, wie verschiedene Akteure des Nahrungsmittelsystems mittels Blockchain-Technologie verbunden sind. Jeder Teilnehmer kann beliebig viele Informationen in der Blockchain abspeichern. So könnte der Erzeuger beispielsweise Angaben zur Pflanzenart machen und preisgeben, mit welchen Stoffen diese behandelt wurde. Der Lieferant wiederum könnte Angaben dazu machen, ob die für das Produkt erforderliche Temperatur während des Transports eingehalten wurde. Der Anzahl an möglichen Angaben sind dabei keine Grenzen gesetzt. Letztendlich kommt es natürlich darauf an, was der jeweilige Akteur bereit ist, über sich preiszugeben.
Food Trust
Food Trust ist ein von IBM ins Leben gerufenes Projekt, das laut IBM, Teilnehmer im Bereich Nahrungsmittelversorgung über eine genehmigungsbasierte, dauerhafte und gemeinsame Aufzeichnung von Daten aus dem Nahrungsmittelsystem miteinander verbindet. Diese gemeinsame, digitale Lebensmittelversorgungskette basiert auf Blockchain-Technologie und soll dafür sorgen, dass alle Akteure der Lieferkette besser zusammenarbeiten, um so auch die Verschwendung von Lebensmitteln zu reduzieren. Zu Teilnehmern dieses Netzwerks gehören unter anderem Erzeuger, Lieferanten, Hersteller und Einzelhändler. Viele große Unternehmen, darunter auch Walmart, sind schon ein Teil davon. Christian Schultze-Wolters sagt: "Es geht darum, ein breites Ökosystem der gesamten, globalen Lebensmittelbranche für Food Trust zu gewinnen, die zugehörige Lieferkette auf der Blockchain abzubilden und Mehrwerte für die Branche zu generieren."
Das Netzwerk besteht aus verschiedenen Modulen, die durch eine grafische Benutzeroberfläche angesteuert werden können. Zum einen gibt es ein Modul über das die Nutzer Transaktionsdaten hochladen, verwalten und darauf zugreifen können. Zum anderen kann man über ein Verfolgungs-Modul den Standort sowie Staus von Lebensmitteln in der Lieferkette verfolgen. Ein weiteres Zertifizierungs-Modul lässt die Teilnehmer des Lebensmittelsystems die Nachhaltigkeit und Herkunft nachweisen.
Die Blockchain-Technologie könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein, um Vertrauen und Transparenz innerhalb des Systems zu etablieren. Doch dafür müssten natürlich auch alle Teilnehmer des Systems mitmachen wollen. 150 Unternehmen sind bereits Teil von IBM Food Trust und laut Christian Schultze-Wolters von IBM steigt die Teilnehmerzahl stetig.
Teaserbild: Blockchain-Technologie sorgt für mehr Transparenz im Nahrungsmittelsystem. Quelle: Marcel Zobel