Virtual Reality gegen Rauchen

Mehr als jeder vierte Deutsche raucht. Wissenschaftler des Forschungskollegs der Uni Siegen wollen den Betroffenen bei der Rauchentwöhnung helfen. Im Forschungsprojekt Antares entwickeln sie eine durch digitale Medien unterstützte Therapie, um Zigarettensucht zu behandeln.//Von Nur Uddin Chowdhury und Semih Terzi

In Deutschland sterben, laut dem Deutschen Krebsforschungszentrum, durch die Ursachen des Rauchens jährlich etwa 110.000 Menschen, darunter 3.000 Passivraucher. Damit sind 13,5 Prozent aller Todesfälle in Deutschland auf das Rauchen zurückzuführen. Es gibt bereits viele Maßnahmen gegen das Rauchen, doch der Zwang nach der Zigarette zu greifen, scheint für Viele bestehen zu bleiben.

Impulsives Verhalten ist entscheidend

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt Antares basiert auf dem  "Dual Process Model of Addiction". Das Modell besagt, dass in unserem Gehirn zwei Prozesse ablaufen: der Impulsive und der Reflektive. Reflektive Prozesse sind Entscheidungen, über die wir nachdenken. Bei impulsiven Prozessen handeln wir automatisch. Im Falle einer Sucht sind die impulsiven Prozesse dominant. Die Forscher wollen das "Approach-Avoidance-Task"-Verfahren (AAT-Verfahren) einsetzen, bei dem ein Vermeidungstraining mit unterschiedlichen Arten von Reizen absolviert wird. Raucher haben in der Regel eine automatische Tendenz zur Annäherung an Rauchreize. Mit dem AAT kann die Vermeidung von Rauchreizen trainiert werden. Dies soll möglichst schnell geschehen, sodass dieses ein automatisierter Prozess wird.

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Effektivität: 3D im Vergleich zu 2D

Zur Verfügung gestellt von Tanja Joan Eiler, Projekt Antares

Zur Verfügung gestellt von Tanja Joan Eiler, Projekt Antares

Die Forscher entwickeln sowohl eine durch Computer generierte "Virtual-Reality"-Anwendung als auch eine Handy-App. Es gab eine PC-Version der Anwendung, die bereits im Einsatz war.  Die traditionelle PC-Version arbeitet mit zweidimensionalen Bildern, die mit einem Joystick weggeschoben oder herangezogen werden sollen. Mit der Handy-App können die Teilnehmer das Training auch unterwegs oder zu Hause nutzen. Die VR-Anwendung ist darauf ausgerichtet, das Potenzial der virtuellen Realität zu nutzen. "Wir untersuchen, inwieweit 3D-Objekte zu einem höheren Verlangen nach Genussmitteln führen können als zweidimensionale Bilder", so Katharina Jahn, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Center for Responsible Innovation & Design (CRID) der Uni Siegen. Das Eintauchen in die virtuelle Welt, die sogenannte Immersion,  soll viel höher sein  als mit einem traditionellen Desktop-Computer. "Wir hoffen, dass sich die Ergebnisse der Therapie durch eine stärkere Immersion und ein höheres Embodiment in der virtuellen Realität verbessern", so Tanja Eiler, die die Anwendung programmiert. In zukünftigen Experimenten soll getestet werden, inwieweit sich weitere Designvarianten auf das Training auswirken. Geplant ist hierbei beispielsweise die Darstellung eines Avatars, der sich durch Body-Tracking synchron mit den realen Aktionen der Nutzer bewegt.

Spaß bringt Motivation

Viele Probanden verlieren die Motivation für eine Therapie. Laut Katharina Jahn hoffen die Forscher, mit virtueller Realität die Motivation der Probanden erhöhen zu können. Das könnte für die langfristige Beteiligung an dem Programm ein entscheidender Faktor sein. Diesbezüglich ist auch "Gamification", die Einbettung von Videospiel-Elementen, geplant. Beispielsweise soll der Nutzer Punkte dafür bekommen, wenn er oder sie besser abgeschnitten hat und die Möglichkeiten, den persönlichen Fortschritt zu verfolgen. Inwieweit sich solche Designvarianten auf die Motivation bei der Therapie der VR-Anwendung auswirken, soll im Rahmen des Projekts untersucht werden.

Klassische Therapien begleiten

Die VR-Therapie ersetzt keine Behandlung, sondern soll unterstützend zu den bereits vorhandenen Behandlungen eingesetzt werden. Abhängig von der Schnelligkeit der Probanden dauert eine Sitzung in der VR im Normalfall zwischen fünf und zehn Minuten. Die Kombination von VR-Therapie mit den herkömmlichen Therapien funktioniert dadurch, dass die Raucher sich über die Sucht informieren. Zum Beispiel sollen sie lernen, wie Sucht überhaupt funktioniert, wie sie einen verändert und auch die Möglichkeiten der bewussten Gegensteuerung.

Zusätzlich wird ein oder mehrmals pro Woche AAT in VR von dem Probanden durchgeführt. Trotzdem besuchen sie regelmäßig ihren Therapeuten und besprechen dort die Themen, die eher auf dem reflektiven als auf dem impulsiven Modell basieren.

Kostenübernahme durch Krankenkassen

Herkömmliche Therapien werden normalweise durch Krankenkassen finanziert. Gregor Däubler, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Verband der Ersatzkassen (vdek) erklärt: "In der Prävention ist es gut möglich, dass Präventionskurse, die VR beinhalten, von den Krankenkassen bezuschusst werden. Dazu muss natürlich das Kurskonzept vollständig vorliegen und von der 'Zentralen Prüfstelle Prävention' geprüft und von der Kooperationsgemeinschaft gesetzlicher Krankenkassen zur Zertifizierung von Präventionskursen zertifiziert werden. Ohne belastbare Evidenz wird eine Unterstützung nicht möglich sein."

Ähnliche Studien hatten positive Ergebnisse

Bei einer Studie in der "University of Quebec" spielten 91 Probanden drei Monate lang über einen "Motion-Tracking-Display" zwei ähnliche Spiele: das "cigarette-crushing game" und "ball-grasping game". In jedem Spiel gingen die Spieler durch eine mittelalterliche Burg und benutzten einen virtuellen Arm (gesteuert von einem drahtlosen Gamepad), um entweder schwebende Zigaretten zu finden und zu zerdrücken oder virtuelle Bälle zu greifen. Am Ende der drei Monate konnten die Forscher durch Messung des Kohlenstoffmonoxidgehalts in einem Ausatmungsversuch feststellen, dass 15 Prozent der Spieler, die im Spiel Zigaretten zerdrückten, ihren Tabakkonsum reduzieren konnten. Im Vergleich konnten nur zwei Prozent der Ballgreifgruppe ihren Nikotinkonsum verringern.

Der Einsatz der VR in der Medizin ist vielfältig

Seit einiger Zeit werden VR-Brillen auch in der Medizin genutzt. Durch die VR ist es möglich, alle erdenklichen medizinischen Eingriffe zu simulieren. Mit diesen Simulationen können Studenten und Ärzte ohne Risiko für einen realen Patienten praktische Erfahrungen sammeln. Sie sollen am Simulator schneller und effektiver lernen als durch das Zuschauen in einem echten Operationssaal. In der Uniklinik Heidelberg können Studenten zu Hause am Schreibtisch über einen Touchscreen einen virtuellen Leichnam sezieren. Ärzte können an virtuellen Patienten neue Behandlungstechniken trainieren und bereiten sich auf operative Eingriffe vor. Therapieerfolge in der VR gibt es auch bei Depressionen, Phobien und chronischen Schmerzen. So entwickelte ein Forscherteam vom "University College London" (UCL) ein Programm, bei dem die Probanden ihrem digitalen Abbild in Form eines Avatars Ratschläge gaben, während sie sich im Körper von Sigmund Freud befanden. Auch Schmerzpatienten können die Möglichkeiten einer VR-Therapie nutzen. Die Universität Washington entwickelte eine künstliche Schneelandschaft mit dem Namen "Snow World". Während der schmerzhaften Prozedur des Verbandswechsels werden Patienten mit Verbrennungswunden in diese Landschaft geschickt. Die Patienten laufen durch verschneite Schneelandschaften, beobachten Pinguine und können Schneebälle werfen. Die Schmerzen verringern sich um bis zu 50 Prozent durch die Ablenkung der Schneelandschaft.

Nebenwirkungen und Risiken

Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kopfschmerzen sind einige der typischen Beschwerden, die bei manchen Menschen im Umgang mit Virtual-Reality auftreten. Tanja Eiler weist auf eine Kinderkrankheit der VR-Brillen hin: "Die Cybersickness kann bei einigen empfindlichen Nutzern natürlich verstärkt auftreten. Ferner werde durch die Nutzung von Virtual-Reality-Brillen der natürliche Blick und Augenfokus in die Ferne unterbunden - eine zusätzliche Ursache für Kurzsichtigkeit. Es können außerdem psychische Probleme auftreten. Ähnlich wie bei Drogenkonsum neigen Menschen dazu, Dinge zu übertreiben, wenn sie dadurch ein positives Gefühl bekommen. Das gilt natürlich auch für Spiele in der virtuellen Welt. Dieses eindrucksvolle Eintauchen in die virtuelle Welt haben sich die Forscher von Antares zu Nutzen gemacht, um Rauchern bei der Entwöhnung zu helfen. So liegen Chancen und Risiken einer neuen Technik wie der VR oft nah beieinander.

Externe Links:
Homepage des Forschungskolleg Siegen: FoKoS

Infobox

An dem Projekt Antares sind die Lehrstühle Klinische Psychologie (Prof. Tim Klucken) und Medizinische Informatik und Mikrosystementwurf (Prof. Rainer Brück), das Center for Responsible Innovation & Design (Prof. Björn Niehaves) sowie das Kreisklinikum Siegen beteiligt. Katharina Jahn untersucht als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Center for Responsible Innovation & Design die Akzeptanz und Wirksamkeit unterschiedlicher Designvarianten. Tanja Joan Eiler ist von Seiten des Lehrstuhls Medizinische Informatik und Mikrosystementwurf für die Programmierung der Anwendungen zuständig.

Teaserbild: Semih Terzi

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